Una

Model: Eliane Hofstetter
Alter: 18

Musik: Parov Stelar – The Princess

Wie viel Bier: 5

Erstes Mal: Una war 15, er war zwei Jahre älter und sehr verliebt in sie. Una hat immer noch das Karopapier, auf dem er ein Lied für sie aufgeschrieben hat, ein paar Zeilen und Gitarrenakkorde; sie zeigt es auf Nachfrage auch gerne jedem, der es sehen will.




Orangenmorgen
Ich wache auf, weil meine Katze mein Ohr leckt und es so warm wird in meinem Zimmer dass ich meine feuchte Haut unter der Decke spüren kann, dass ich spüre, wie der Schweiss auf meinen Fingerspitzen sich mit dem Schweiss auf meinem Bauch vermischt. Ich schlage die Decke zurück. Die Katze legt eine Pfote auf meine Stirn. Gestern Nacht war alles kaltnass, mindestens von dem Punkt an, an dem das Wasser entzweibrach und mein Pink-Floyd-Shirt davontrieb auf dem Fluss, ich mich so schwer und betrunken fühlte im Wasser, so verloren – man sagt die Nächte der Jugend sind unvergesslich, dabei ist der grösste Teil der Nächte schwarz und einsam. Die einsamsten Nächte sind diejenigen, die man in den Armen anderer Gestrandeter verbringt, vor allem, wenn man genau weiss, dass sie einem ebenfalls als Mitgestrandete und nicht mehr sehen.



Wie immer am Samstagmorgen kaufe ich im Laden zwei Strassen weiter Orangensaft und will mich damit auf den Balkon setzen und dämmern. Häschen läuft mir über den Weg. Ich mag das, dass ich samstagmorgens in der Stadt immer zufällig Freunde treffe. Ich verabrede mich nicht gerne. Häschen und ich setzen uns an den Fluss und essen ein paar Heidelbeeren. Ich weiss nicht, wieso er Heidelbeeren dabei hat. Am Schluss küsst er mich. Ich erzähle ihm von Adorno und dem Fluss gestern Abend. Auf dem Heimweg fällt mir ein, dass ich noch den Orangensaft in meiner Tasche habe. Er ist warm geworden. Ich nehme ihn heraus und werfe ihn in die nächste Mülltonne.
 



Grüner Vorplatz
Ich wische den Vorplatz und küsse die Katze. Meine Mutter kommt hinaus, sie trinkt Grüntee am Plastiktischchen und trägt ihre moosgrüne Jacke. Meine Mutter sagt manchmal: Una, dir wird nie langweilig. Dabei weiss sie nicht, was ich mache, wenn ich auf meinem Zimmer bin. Manchmal schreibe ich Wörter hundertmal hintereinander auf eine Rolle Papier und sehe zu, wie sie sich verändern. Zum Beispiel Lebenserwartung: Wenn man das Wort auftrennt, heisst es Lebens Erwartung. Es hat fast wehgetan, als ich an meinem Schreibtisch sass und das lesen musste, was mir da nur durch das Absetzen des Stiftes einen halben Zentimeter weiter entgegensah: Des Lebens Erwartung. Vielleicht heisst das, die Erwartung des Lebens an uns. Oder unsere Erwartung an das Leben. Wohl eher zweiteres. Ich erwarte manchmal, dass es länger hell bleiben sollte draussen: Diesen Sommer ist es nie richtig hell geblieben. Als Kind kam es mir ewig vor, weil ich da um zehn schlafen musste und es dann immer noch hell war. Als ich gestern auf der Party ankam, war es schon dunkel, und als wir in den Fluss gesprungen sind, auch, und als ich nach Hause ging, da war es immer noch dunkel, und ich musste daran denken, dass alles noch anders war, als Adorno mich hier einmal nach Hause gebracht hat, da waren wir fünfzehn, glaube ich.




Frei und radikal
Aila hat Geburtstag. Es fällt mir in dem Moment ein, in dem ich das Meersalz vom Gewürzregal nehme, um es auf das Weissbrot zu streuen, das schon etwas hart ist, aber ich habe einen Nachtag, und ich will Salz essen, am liebsten pur, aber ich habe irgendwo einmal gelesen, dass man stirbt davon.

Jedenfalls, es ist Ailas achtzehnter Geburtstag, und ich habe die ganze Nacht nicht daran gedacht. Wir waren bei J und haben gefeiert, aber nicht sie, sondern, ja, was wir eigentlich gefeiert haben, weiss ich auch nicht. Hat ihr um zwölf überhaupt jemand gratuliert? Ich bin mir nicht sicher, ob es irgendjemand gewusst hat. Fee vielleicht. Ich habe Aila nicht mehr gesehen, nachdem wir zusammen in den Fluss gesprungen sind. Nachher ging sie weg. Doch, ich habe sie noch einmal gesehen: Sie stand an einer Türe. Ich habe, glaub ich, ein Glas Wasser mit ihr getrunken, in der Küche. Wenn ich mit Aila zusammen bin, spüre ich immer, was wir eigentlich alle sind, denn irgendwie hat sie so was Schwirrendes an sich, nicht, dass sie ständig verschwinden würde, im Gegenteil: Sie ist immer da; sie schwirrt um mich, um alle; sie schwirrt und setzt sich nicht nieder. Vielleicht tun wir das alle umeinander, doch bei ihr spüre ich es besonders, dieses Unfestsetzbare, während die anderen zumindest so tun, als wüssten sie, wo sich niedersetzen, wo sich hinlegen, wo mit wem welches Gespräch führen: Adorno in seinem Wohnzimmersessel; der Papagei vor der Toilette, weil dort die meisten Mädchen nicht damit rechnen, dumm angemacht zu werden, wenn sie sich gerade die Hände gewaschen haben; Fee auf dem Raucherbalkon, Häschen dort, wo sich gerade die meisten Leute ansammeln, Quentin und Tonna meist zusammen irgendwo am Rand, ausser wenn Quentin betrunken ist und auf dem Tisch tanzt, so wie gestern. Sie alle tun so, als wüssten sie, was ihr Platz ist und was man so macht an Partys. Dabei sind wir eher wie freie Radikale, zuckend und schwirrend bei Nacht. Tagsüber kleben wir in unseren Salzgittern fest und wollen nicht zugeben, dass wir uns da sicher fühlen. Wir wären alle gerne frei, und wir wäre alle gerne radikal. Wir stünden alle gerne am staubigroten Strassenrand und warteten, bis der nächste Laster uns mit ans Meer nimmt. Und wir wären alle gerne radikal. Wir wären gerne die, die etwas Neues ausprobieren, die ersten Lederjackenträger oder Bebopspieler oder Pop-Up-Künstler. Aber alles, was wir tun, bleibt Imitation. Wenn wir am Strassenrand sitzen und Bier trinken, imitieren wir die verlorene Jugend bloss, denn wir hätten ja ein Zuhause, wo wir Bier trinken könnten. Dieses blosse Abbild einer Kultur lässt noch farbloser erscheinen. Wir imitieren Polaroidfotos. Selbst die Augenringe sind geschminkt. Unsere Eltern hatten schlechte Kameras. Wir haben Instagram.




Nach dem Tag
Ein Wort, das ich auch einmal auseinander genommen habe, war Nachtag. Ich weiss gar nicht, woher das Wort kommt, ob es das wirklich gibt oder ob es irgendjemand einmal konstruiert oder erfunden oder übernommen hat. Nach Tag, das heisst nach dem Tag, nach dem, was wir als Tag anschauen, und das ist die Nacht. Die Nacht ist der Hauptteil, und der Tag danach ist der unliebsame Rest, wie der letzte Schluck einer Flasche Bier, der schon schal ist und nach Spucke schmeckt. Der Tag danach macht einen gewiss, dass Bier, wenn es nicht vorher gekühlt und geschlossen gelagert wurde, eigentlich gar nicht gut ist. Der Nach-Tag, der selbst ein Tag sein will, aber keiner ist, da an ihm selbst sich nur noch die Denkprozesse vollziehen, und nichts ist schädlicher für Spass und Exzess als Denkprozesse. Sie zersetzen und zerfetzen alles Ästhetische und Erstrebenswerte: Jeden Flussmoment, jeden Balkonmoment, jeden Hinterzimmermoment.


Gestern gab es viele solche Momente: Adorno und ich im Fluss. Diese neuen Mädchen und Häschen und ich um den Sofatisch herum, Trinkspiele spielen, Quentin tanzt auf dem Tisch, aber keiner schaut zu ihm, und das stört ihn bestimmt. Das Heimgehen barfuss über den warmen Asphalt, allein. Und Häschen heute morgen – eigentlich war es ein netter Kuss. Für die paar Momente. Das Denken konnte schön im Gras versinken, oder im Fluss, oder in beidem.




Vor dem Schlaf
Jetzt will ich Aila schreiben. Oder am besten nicht Aila, sondern den anderen: Wir könnten sie überraschen. Ich stelle mir vor, wie ich Leute zu Aila einlade: der Papagei, der die Tequilaflasche in der Hand hochhebt und über den Balkon kotzt. Adorno, der sicher da übernachten würde. Adorno ist immer schon betrunken, wenn die ersten guten Lieder laufen, wenn die meisten Leute kommen, wenn die ersten interessanten Gespräche anfangen: Trotzdem ist er unverzichtbar. Er ist der Fixstern im Universum jeder Party, weil er immer in seinem Sessel sitzt und den Überblick zu haben scheint, und solange Adorno noch nicht auf dem Sofa pennt, ist die Party noch nicht vorbei.
Fee würde sicher Rotwein mitbringen. Oder Weisswein? Jedenfalls hat sie immer Wein dabei. Quentin würde entweder so betrunken sein wie gestern, oder er würde den ganzen Abend Wasser trinken und sich mit Tonna unterhalten.
Die Bilder passen überhaupt nicht zu Aila nach Hause, zu ihrem kleinen Zimmer mit der riesigen Leinwand, die ihr den Weg zur Türe verperrt, die sie aber absichtlich nicht in ein anderes Zimmer stellt – sie sagt, die Enge des Zimmers inspiriere sie. Ich glaube, sie will einfach, dass alle sehen, dass sie malt.
Die Bilder passen auch nicht zur hellen Küche, zu den Ayurveda-Kochbüchern und zur streunenden Katze, die Aila zähmen will, die aber immer vor ihr davonrennt. Von mir liess sie sich ein paar Mal streicheln.

Ich schreibe Adorno und Fee und Häschen. Und weil das so wenige sind, schreibe ich noch Quentin und Tonna. Nachher lege ich mich schlafen. Meine Katze klettert wieder auf mein Bett. Ich höre, wie meine Mutter unten Tee kocht. Der Moment vor dem Einschlafen ist immer simpel und schön, wie, wenn man noch ein Kind ist. In meinem Traum schwimme ich nochmal im Fluss, allein.