Model: Eliane Hofstetter |
Musik: Parov Stelar – The Princess
Wie viel Bier: 5
Erstes Mal: Una war 15, er war zwei Jahre älter und sehr verliebt in sie. Una hat immer noch das Karopapier, auf dem er ein Lied für sie aufgeschrieben hat, ein paar Zeilen und Gitarrenakkorde; sie zeigt es auf Nachfrage auch gerne jedem, der es sehen will.
Orangenmorgen
Ich
wache auf, weil meine Katze mein Ohr leckt und es so warm wird in
meinem Zimmer dass ich meine feuchte Haut unter der Decke spüren
kann, dass ich spüre, wie der Schweiss auf meinen Fingerspitzen sich
mit dem Schweiss auf meinem Bauch vermischt. Ich schlage die Decke
zurück. Die Katze legt eine Pfote auf meine Stirn. Gestern Nacht war
alles kaltnass, mindestens von dem Punkt an, an dem das Wasser
entzweibrach und mein Pink-Floyd-Shirt davontrieb auf dem Fluss, ich
mich so schwer und betrunken fühlte im Wasser, so verloren – man
sagt die Nächte der Jugend sind unvergesslich, dabei ist der grösste
Teil der Nächte schwarz und einsam. Die einsamsten Nächte sind
diejenigen, die man in den Armen anderer Gestrandeter verbringt, vor
allem, wenn man genau weiss, dass sie einem ebenfalls als
Mitgestrandete und nicht mehr sehen.
Wie
immer am Samstagmorgen kaufe ich im Laden zwei Strassen weiter
Orangensaft und will mich damit auf den Balkon setzen und dämmern.
Häschen läuft mir über den Weg. Ich mag das, dass ich
samstagmorgens in der Stadt immer zufällig Freunde treffe. Ich
verabrede mich nicht gerne. Häschen und ich setzen uns an den Fluss
und essen ein paar Heidelbeeren. Ich weiss nicht, wieso er
Heidelbeeren dabei hat. Am Schluss küsst er mich. Ich erzähle ihm
von Adorno und dem Fluss gestern Abend. Auf dem Heimweg fällt mir
ein, dass ich noch den Orangensaft in meiner Tasche habe. Er ist warm
geworden. Ich nehme ihn heraus und werfe ihn in die nächste
Mülltonne.
Grüner Vorplatz
Ich wische den Vorplatz und küsse die Katze. Meine Mutter kommt hinaus, sie trinkt Grüntee am Plastiktischchen und trägt ihre moosgrüne Jacke. Meine Mutter sagt manchmal: Una, dir wird nie langweilig. Dabei weiss sie nicht, was ich mache, wenn ich auf meinem Zimmer bin. Manchmal schreibe ich Wörter hundertmal hintereinander auf eine Rolle Papier und sehe zu, wie sie sich verändern. Zum Beispiel Lebenserwartung: Wenn man das Wort auftrennt, heisst es Lebens Erwartung. Es hat fast wehgetan, als ich an meinem Schreibtisch sass und das lesen musste, was mir da nur durch das Absetzen des Stiftes einen halben Zentimeter weiter entgegensah: Des Lebens Erwartung. Vielleicht heisst das, die Erwartung des Lebens an uns. Oder unsere Erwartung an das Leben. Wohl eher zweiteres. Ich erwarte manchmal, dass es länger hell bleiben sollte draussen: Diesen Sommer ist es nie richtig hell geblieben. Als Kind kam es mir ewig vor, weil ich da um zehn schlafen musste und es dann immer noch hell war. Als ich gestern auf der Party ankam, war es schon dunkel, und als wir in den Fluss gesprungen sind, auch, und als ich nach Hause ging, da war es immer noch dunkel, und ich musste daran denken, dass alles noch anders war, als Adorno mich hier einmal nach Hause gebracht hat, da waren wir fünfzehn, glaube ich.
Frei und radikal
Aila
hat Geburtstag. Es fällt mir in dem Moment ein, in dem ich das
Meersalz vom Gewürzregal nehme, um es auf das Weissbrot zu streuen,
das schon etwas hart ist, aber ich habe einen Nachtag, und ich will
Salz essen, am liebsten pur, aber ich habe irgendwo einmal gelesen,
dass man stirbt davon.
Jedenfalls,
es ist Ailas achtzehnter Geburtstag, und ich habe die ganze Nacht
nicht daran gedacht. Wir waren bei J und haben gefeiert, aber nicht
sie, sondern, ja, was wir eigentlich gefeiert haben, weiss ich auch
nicht. Hat ihr um zwölf überhaupt jemand gratuliert? Ich bin mir
nicht sicher, ob es irgendjemand gewusst hat. Fee vielleicht. Ich
habe Aila nicht mehr gesehen, nachdem wir zusammen in den Fluss
gesprungen sind. Nachher ging sie weg. Doch, ich habe sie noch einmal
gesehen: Sie stand an einer Türe. Ich habe, glaub ich, ein Glas
Wasser mit ihr getrunken, in der Küche. Wenn ich mit Aila zusammen
bin, spüre ich immer, was wir eigentlich alle sind, denn irgendwie
hat sie so was Schwirrendes an sich, nicht, dass sie ständig
verschwinden würde, im Gegenteil: Sie ist immer da; sie schwirrt um
mich, um alle; sie schwirrt und setzt sich nicht nieder. Vielleicht
tun wir das alle umeinander, doch bei ihr spüre ich es besonders,
dieses Unfestsetzbare, während die anderen zumindest so tun, als
wüssten sie, wo sich niedersetzen, wo sich hinlegen, wo mit wem
welches Gespräch führen: Adorno in seinem Wohnzimmersessel; der
Papagei vor der Toilette, weil dort die meisten Mädchen nicht damit
rechnen, dumm angemacht zu werden, wenn sie sich gerade die Hände
gewaschen haben; Fee auf dem Raucherbalkon, Häschen dort, wo sich
gerade die meisten Leute ansammeln, Quentin und Tonna meist zusammen
irgendwo am Rand, ausser wenn Quentin betrunken ist und auf dem Tisch
tanzt, so wie gestern. Sie alle tun so, als wüssten sie, was ihr
Platz ist und was man so macht an Partys. Dabei sind wir eher wie
freie Radikale, zuckend und schwirrend bei Nacht. Tagsüber kleben
wir in unseren Salzgittern fest und wollen nicht zugeben, dass wir
uns da sicher fühlen. Wir wären alle gerne frei, und wir wäre alle
gerne radikal. Wir stünden alle gerne am staubigroten Strassenrand
und warteten, bis der nächste Laster uns mit ans Meer nimmt. Und wir
wären alle gerne radikal. Wir wären gerne die, die etwas Neues
ausprobieren, die ersten Lederjackenträger oder Bebopspieler oder
Pop-Up-Künstler. Aber alles, was wir tun, bleibt Imitation. Wenn wir
am Strassenrand sitzen und Bier trinken, imitieren wir die verlorene
Jugend bloss, denn wir hätten ja ein Zuhause, wo wir Bier trinken
könnten. Dieses blosse Abbild einer Kultur lässt noch farbloser
erscheinen. Wir imitieren Polaroidfotos. Selbst die Augenringe sind
geschminkt. Unsere Eltern hatten schlechte Kameras. Wir haben
Instagram.
Nach dem Tag
Ein Wort, das ich auch einmal auseinander genommen habe, war Nachtag. Ich weiss gar nicht, woher das Wort kommt, ob es das wirklich gibt oder ob es irgendjemand einmal konstruiert oder erfunden oder übernommen hat. Nach Tag, das heisst nach dem Tag, nach dem, was wir als Tag anschauen, und das ist die Nacht. Die Nacht ist der Hauptteil, und der Tag danach ist der unliebsame Rest, wie der letzte Schluck einer Flasche Bier, der schon schal ist und nach Spucke schmeckt. Der Tag danach macht einen gewiss, dass Bier, wenn es nicht vorher gekühlt und geschlossen gelagert wurde, eigentlich gar nicht gut ist. Der Nach-Tag, der selbst ein Tag sein will, aber keiner ist, da an ihm selbst sich nur noch die Denkprozesse vollziehen, und nichts ist schädlicher für Spass und Exzess als Denkprozesse. Sie zersetzen und zerfetzen alles Ästhetische und Erstrebenswerte: Jeden Flussmoment, jeden Balkonmoment, jeden Hinterzimmermoment.
Gestern
gab es viele solche Momente: Adorno und ich im Fluss. Diese neuen
Mädchen und Häschen und ich um den Sofatisch herum, Trinkspiele
spielen, Quentin tanzt auf dem Tisch, aber keiner schaut zu ihm, und
das stört ihn bestimmt. Das Heimgehen barfuss über den warmen
Asphalt, allein. Und Häschen heute morgen – eigentlich war es ein
netter Kuss. Für die paar Momente. Das Denken konnte schön im Gras
versinken, oder im Fluss, oder in beidem.
Vor dem Schlaf
Jetzt
will ich Aila schreiben. Oder am besten nicht Aila, sondern den
anderen: Wir könnten sie überraschen. Ich stelle mir vor, wie ich
Leute zu Aila einlade: der Papagei, der die Tequilaflasche in der
Hand hochhebt und über den Balkon kotzt. Adorno, der sicher da
übernachten würde. Adorno ist immer schon betrunken, wenn die
ersten guten Lieder laufen, wenn die meisten Leute kommen, wenn die
ersten interessanten Gespräche anfangen: Trotzdem ist er
unverzichtbar. Er ist der Fixstern im Universum jeder Party, weil er
immer in seinem Sessel sitzt und den Überblick zu haben scheint, und
solange Adorno noch nicht auf dem Sofa pennt, ist die Party noch
nicht vorbei.
Fee
würde sicher Rotwein mitbringen. Oder Weisswein? Jedenfalls hat sie
immer Wein dabei. Quentin würde entweder so betrunken sein wie
gestern, oder er würde den ganzen Abend Wasser trinken und sich mit
Tonna unterhalten.
Die
Bilder passen überhaupt nicht zu Aila nach Hause, zu ihrem kleinen
Zimmer mit der riesigen Leinwand, die ihr den Weg zur Türe verperrt,
die sie aber absichtlich nicht in ein anderes Zimmer stellt – sie
sagt, die Enge des Zimmers inspiriere sie. Ich glaube, sie will
einfach, dass alle sehen, dass sie malt.
Die
Bilder passen auch nicht zur hellen Küche, zu den
Ayurveda-Kochbüchern und zur streunenden Katze, die Aila zähmen
will, die aber immer vor ihr davonrennt. Von mir liess sie sich ein
paar Mal streicheln.
Ich schreibe Adorno
und Fee und Häschen. Und weil das so wenige sind, schreibe ich noch
Quentin und Tonna. Nachher lege ich mich schlafen. Meine Katze
klettert wieder auf mein Bett. Ich höre, wie meine Mutter unten Tee
kocht. Der Moment vor dem Einschlafen ist immer simpel und schön,
wie, wenn man noch ein Kind ist. In meinem Traum schwimme ich nochmal
im Fluss, allein.